
Türkischer Gerichtsstreit Zweifel an Rechtsstaatlichkeit
Stand: 12.01.2018 15:47 Uhr
Zuletzt wollte die Türkei noch Europa von ihrer Rechtsstaatlichkeit überzeugen. Jetzt wird plötzlich die höchste Instanz im eigenen Land in Frage gestellt.
Von Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul
Es sah nach einer positiven Signalwirkung aus: Das türkische Verfassungsgericht entschied am Donnerstag, dass die U-Haft zweier Journalisten ein Rechtsverstoß sei. Sie müssten frei gelassen werden, bis ein Urteil gefällt sei. Diese Entscheidung wurde in vielen Medien als richtungsweisend bezeichnet. Lange hatten viele darauf gewartet, dass sich das höchste Gericht im Land mit den zahlreichen Fällen von Journalisten, die nach dem Putschversuch verhaftet wurden und in Untersuchungshaft auf ihre Prozesse warten, beschäftigt. Doch nun kippten die zuständigen Strafgerichte in Istanbul die Entscheidung des höchsten Gerichts im Land.
Journalisten bleiben in Haft
Ergebnis: Die Journalisten bleiben weiter in U-Haft. Offiziell begründen die beiden Strafgerichte ihre Entscheidung damit, dass das Urteil noch nicht im Amtsanzeiger abgedruckt sei und so eine formelle Unstimmigkeit herrsche. Der Istanbuler Rechtsanwalt Mehmet Köksal sieht das jedoch anders, denn laut Gesetz müssten nur Urteile, die einen Präzedenzfall schaffen oder eine Grundsatzentscheidung bilden, im Amtsblatt veröffentlicht werden. "Das trifft auf das vorliegende Urteil nicht zu. Also sind alle Formerfordernisse erfüllt." Das Istanbuler Gericht sei dem Urteil trotzdem nicht gefolgt. "Somit haben die Istanbuler Richter eine Verfassungsstraftat begangen."
Im ARD-Interview hatte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu zuletzt auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz, allen voran des Verfassungsgerichts hingewiesen:
"Es ist unabhängig. Seit wir die individuelle Verfassungsbeschwerde eingeführt haben, spielt das Verfassungsgericht eine entscheidende Rolle. Viele Menschen wurden in der Vergangenheit aufgrund der Urteile des Verfassungsgerichts freigelassen, einschließlich einiger Journalisten und Politiker. Das ist der Mechanismus der individuellen Verfassungsbeschwerde, die diese Regierung eingeführt hat."
Der Widerruf des Verfassungsurteils durch niedriger gestellte Strafgerichte - womöglich ein individueller Fehler der Richter? Diese Vermutung räumte wohl spätestens der stellvertretende Ministerpräsident Bekir Bozdag aus dem Weg. Auf Twitter schrieb er, die Entscheidung des Verfassungsgerichts sei eine schlechte und falsche Wiederholung des Can-Dündar-Falls. Der war im Februar 2016 auf Grund seiner Beschwerde beim Verfassungsgericht aus der U-Haft entlassen worden.
Außenminister Cavusoglu im Interview
11.01.2018
Vorwurf der Beinflussung
Ebenfalls auf Twitter werfen derweil regierungsnahe Journalisten dem Verfassungsgericht vor, direkt vom ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül beeinflusst zu sein. Schließlich seien acht der 17 Verfassungsrichter während seiner Amtszeit berufen worden. Gül hatte sich in den vergangenen Monaten schrittweise von der Regierungspartei AKP distanziert und erst kürzlich ein umstrittenes Dekret der Regierung öffentlich kritisiert.
Was heißt dieses hin und her nun für die Betroffenen, die mehr als 150 Journalisten, die laut Menschenrechtsorganisationen derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft sitzen? Sollten sie tatsächlich noch ein Restvertrauen in die türkische Justiz gehabt haben, so dürfte dieses Vertrauen nun wohl endgültig fort sein - wenn nicht einmal das höchste Gericht im Land Entscheidungen fällen kann, die umgesetzt werden.
Was bedeutet das für den Fall Yücel?
Das gilt auch für den Fall von Deniz Yücel. Er hatte wie seine türkischen Kollegen beim Verfassungsgericht Beschwerde gegen seine U-Haft erhoben. Seit beinahe elf Monaten sitzt der "Welt"-Korrespondent ohne Anklageschrift im türkischen Gefängnis. Sein Fall könnte zeitnah - vielleicht schon kommende Woche - vom Verfassungsgericht beurteilt werden. Wie auch immer das Gericht dann entscheidet, spannender als das Urteil ist nun die Frage: Wird es auch umgesetzt?
Weitere Meldungen aus dem Archiv vom 12.01.2018
- Alle Meldungen vom 12.01.2018 zeigen